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Standesamt

Ich hatte bisher Gelegenheit in drei Berliner Standesämtern die Geburten- und Sterbebücher einzusehen und auszuwerten. Ich danke den zuständigen LeiterInnen, daß Sie mir den Zugang ermöglicht und dadurch Wege zu neuen Forschungen eröffnet haben.
Zwei Beiträge erläutern die Forschungssituation:

1. Ein komprimierter Bericht über Recherchen im Standesamt Neukölln

2. Eine knappe Darstellung des Verbotes des Standesamtes Neukölln, die gewonnenen Ergebnisse zu veröffentlichen sowie das Verbot weiterer Recherchen

Ein dritter Bericht wird darüber handeln, wie das Standesamt auch die Namen des Lagerpersonal gedeckt - trotz Berliner Informationsfreiheitsgesetz. Voraussichtlich an Ostern 2003 wird dieser Bericht fertiggestellt sein.

Das Standesamt als Quelle zur Erforschung der Zwangsarbeit. Erfahrungen aus Berlin-Neukölln.
Bernhard Bremberger

Viele ehemalige Zwangsarbeiter suchen heute noch verzweifelt Nachweise für ihre erzwungene Arbeit in Deutschland. Anfragen an Archive bringen nur sehr wenige Ergebnisse, weil die wenigsten entsprechend ausgewertet sind. Eine wichtige Quelle für direkte Nachweise sind Unterlagen der Standesämter. Doch sind diese meist aus Datenschutzgründen unter Verschluß.

Das Standesamt Neukölln hat eine Auswertung ermöglicht. Dabei kamen Ergebnisse zutage, die niemand vermutet hätte:

  • 1944 war jeder zehnte in Neukölln registrierte Säugling das Kind einer Zwangsarbeiterin, im Januar 1944 jedes sechste, im Juni jedes fünfte. Dies läßt auf den Anteil der Zwangsarbeiter an der Gesamtbevölkerung schließen.
  • Die Geburten- und Sterbebücher des Standesamtes enthalten weit über 1.000 Namen von Zwangsarbeitern und ihren Kindern - heute überlebensnotwendige Nachweise. Bald 500 alleine in Neukölln geborene Kinder von “Ausländerinnen” sind darin verzeichnet. Die Überlebenden finden hierin einen Beleg - und wie viele von ihnen gibt es noch heute, die nur wissen,, daß Sie in oder bei Berlin geboren sind.
  • Über 250 Lagerstandorte sind in den Büchern des Standesamtes Neukölln enthalten: 50 Lager in Neukölln, 170 Lager in ganz Berlin und fast 30 weitere Lager, vor allem aus Brandenburg. Etwa die Hälfte dieser Lageradressen waren bisher nicht veröffentlicht und damit der Forschung unbekannt. Selbst für Neukölln waren uns die wenigsten Lager bisher ein Begriff.
  • Manche Lageradressen nennen eine Firma, die vermutlich für das Lager verantwortlich war - in welcher Form auch immer.
  • Die Bücher des Standesamtes erlauben detaillierte Aussagen zu einzelnen Lagern: Herkunft der Gefangenen, “Freizügigkeit”, Lagerhierarchie und -personal etc.
  • Auch auf die Frage, wie Kinder von Zwangsarbeiterinnen behandelt wurden, finden sich erste Antworten: Im Sommer 1944 verstarben überdurchschnittlich viele Kinder im Säuglings- und Mütterheim Neukölln, meist an “Ernährungsstörung”. Diese Spur muß weiter verfolgt werden, denn aus zahlreichen anderen Orten ist bekannt, daß die Kinder in speziellen Heimen zu Tode gepflegt wurden. Es gibt auch eine Spur, die nach Berlin-Buch führt.
  • Anonymisierte Dokumente aus den Sterbeurkunden erlauben es, dieses Thema erstmalig in Berlin in einer Ausstellung zur Sprache zu bringen. (Heimatmuseum Neukölln: “Der erste Schrei, oder wie man in Neukölln zur Welt kommt”)
  • Durch Forschung im Standesamt war es möglich, sowohl der evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg als auch der Firma Eternit AG Dokumente zugänglich zu machen, die sich außerhalb ihrer Kontrolle befunden hatten. Danach sahen sie sich veranlasst, mit ihrem Wissen an die Öffentlichkeit zu gehen.
  • Das Standesamt Neukölln einen Einblick in die Unterlagen ermöglicht. Wer weiß, wie vielen Überlebenden alleine dadurch zu ihrem Recht verholfen werden kann, wenn sich andere Standesämter schleunigst für ähnliche Forschungen öffnen. Dies scheint heute dringend erforderlich zu sein.

    Das Standesamt Neukölln hat zuerst seine Pforten geöffnet. Die Ämter der Nachbarbezirke Kreuzberg und Tempelhof gestatteten Vergleichsstudien.

    Überdies müßte den Verbänden der überlebenden Zwangsarbeitern bekannt gegeben werden, daß sowohl Mütter, die in Berlin geboren haben, wie auch ihre Kinder in den Standesämtern möglicherweise einen unmittelbaren Nachweis bekommen können.

     

    Der (Nicht-)Fortgang der Forschungen im Standesamt Neukölln
    Bernhard Bremberger

    Der Zugang zu den Unterlagen des Standesamtes war zunächst erfolgt unter der Prämisse, daß ich für das Thema “Kinder von Zwangsarbeiterinnen” recherchiere. Einige anonymisierte Dokumente wurden als “Akte” in der Ausstellung des Heimatmuseums Neukölln veröffentlicht.

    Schon am ersten Recherchetag hatte sich allerdings herausgestellt, daß in den Geburten- und Sterbebüchern zahlreiche Informationen auch zu bisher unbekannten Zwangsarbeiterlagern enthalten war. Die Recherche umfaßte dann in der Folge mit Einverständnis der Leiterin des Amtes sowohl die Lagerstandorte wie auch Informationen über die Bedingungen innerhalb der Lager (Nationalitäten, Ehepaare oder Alleinstehende, Todesursachen).

    Im Juli 2000 trugen Unterlagen des Standesamtes, die auf meine Bitte hin durch die Leiterin des Amtes veranlasst worden waren, dazu bei, daß die Evangelische Kirche ihre Beteiligung am Zwangsarbeitersystem eingestand. Außerdem konnte mit Hilfe von Dokumenten aus der “Akte” in der Ausstellung des Heimatmuseums die Beteiligung der Firma Eternit an einemZwangsarbeiterlager nachgewiesen werden. (Der Tagesspiegel, 20.7.2000)

    Bei meiner nächsten Vorsprache im Standesamt wurden mir weitere Recherchen untersagt. Des weiteren wurde von Seiten des Standesamtes in den Raum gestellt, daß es nicht Aufgabe des Heimatmuseums sei, über Zwangsarbeit zu forschen. Auch mir wurde untersagt, die im Standesamt gewonnenen Informationen - sprich ca. 250 Lagerstandorte, teilweise mit selbstverständlich anonymisierten Informationen über die “Bewohner”, - zu veröffentlichen.

    Im Rahmen eines Vortrags am 22.11.2000 informierte ich die Öffentlichkeit über das Verbot, die Ergebnisse der Recherche zu veröffentlichen. Die Presse berichtete darüber (u.a. Berliner Morgenpost 24.11.2000), und in der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung kam es zu einer großen Anfrage.

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